Eurovision-Bühne in der Malmo Arena
AP/TT News Agency/Johan Nilsson
Niederlande ausgeschlossen

Blanke Nerven vor Song-Contest-Finale

Baby Lasagna gegen Nemo, Kroatien gegen Schweiz: So hätte das offensichtliche Duell um den Sieg beim heurigen Song Contest in Malmö gelautet. Doch in den vergangenen Tagen hat der Bewerb eine ganz andere Wendung genommen: Die Kontroverse um das Antreten Israels mündete in Anfeindungen gegen Sängerin Eden Golan – was ihre Chancen offenbar steigerte. Und der niederländische Kandidat Joost Klein wurde wenige Stunden vor Beginn nach einem berichteten Übergriff auf eine TV-Mitarbeiterin vom Song Contest ausgeschlossen. Bei den Nachmittagsproben gingen die Turbulenzen weiter.

In einem Statement zu Mittag verkündete die Europäische Rundfunkunion (EBU), dass Klein nicht am Finale am Abend teilnehmen darf. Grund dafür seien Polizeiermittlungen im Zusammenhang mit einem Zwischenfall nach seinem Halbfinal-Auftritt am Donnerstagabend. Die EBU hielt fest, dass an dem Vorfall – entgegen allen Gerüchten auf Social Media – keine andere Delegation beteiligt gewesen sei. Ohne ein Land zu nennen, meinen die Veranstalter wohl Israel.

Der niederländische EBU-Partnersender AVROTROS protestierte gegen den Ausschluss. Joost sei nach seinem Auftritt entgegen klaren Absprachen gefilmt worden. Er habe zu verstehen gegeben, dass er nicht gefilmt werden wollte, das sei aber missachtet worden. Daraufhin habe er „eine bedrohliche Bewegung in Richtung Kamera gemacht“. Er habe die Kamerafrau nicht berührt. Die Disqualifikation sei nach Ansicht von Avratos „hart und unverhältnismäßig.“

Klein war ebenfalls am Donnerstag wegen Spitzen gegen die israelische Kandidatin aufgefallen, dann fehlte er am Freitag bei den Proben. Er war eigentlich als einer der Publikumsfavoriten ins Rennen gegangen, „Europapa“ präsentierte sich zunächst als Techno-Kinderlied und Spaßbeitrag – und endet in einem Appell für ein Europa ohne Grenzen und als Hommage an den früh verstorbenen Vater des Sängers.

Der Niederländische Sänger Joost Klein bei der Pressekonferenz mit Fahne über dem Kopf
EBU/Sarah Louise Bennett
Joost Klein zog sich bei der Pressekonferenz nach dem zweiten Halbfinale während der israelischen Antworten seine Flagge über den Kopf und störte mit Zwischenrufen

Welche Folgen ein Ausschluss nun hat, bleibt offen. Wegen seiner „Kritik“ an Israel steht zu befürchten, dass antiisraelische Stimmen in und außerhalb der Halle nun die große Verschwörung wittern, eine weitere Eskalation der Lage steht wohl bevor. Die Nerven in Malmö liegen jedenfalls blank.

Turbulenzen am Samstag

Bei der letzten Probe vor dem Finale am Samstagnachmittag fehlten die Teilnehmenden aus Griechenland, der Schweiz und Irland bei der Flaggenparade am Beginn der Show. Irlands Bambie Thug erklärte später auf Instagram, dass sie auch ihren Song in der Probe per Video einspielen lassen werde: Es hätte „eine Situation“ vor der Flaggenparade gegeben, die eine „dringende Reaktion“ der EBU erfordere.

Nähere Angaben gab es dazu nicht, Medienvertreter aus dem Pressezentrum in Malmö berichteten von einer Krisensitzung der EBU. Der französische Kandidat Slimane unterbrach die Probe seines Songs „Mon amour“ und richtete einen Friedensappell an das Publikum.

Israelischer Beitrag als politischer Spielball

Dabei hatte es schon vorher extrem viel Aufregung über den israelischen Beitrag „Hurricane“ gegeben. Stimmlich einwandfrei und handwerklich gut gemacht, wurde die dramatische Ballade zum politischen Spielball. Beim Song Contest unübliche Buhrufe während des Auftritts im Halbfinale zeugen genauso davon wie Drohungen gegen die 20-jährige Künstlerin, wegen der diese ihre Zeit in Malmö primär im – oft von Demonstrationen belagerten – Hotel verbringen musste. Teils offene Anfeindungen kamen auch von anderen Kandidatinnen und Kandidaten.

Dass sich die Weltpolitik auf das Song-Contest-Ergebnis auswirken könnte, suggerieren aktuell Spekulationen über viele Sympathiestimmen für Israel beim Televoting und der daraus resultierende große Sprung nach oben in den Wettquoten kurz vor dem Finale sowie extrem kontroverse Social-Media-Nervosität.

Kaleen als Letzte im Rennen

Die aktuellen Ereignisse lassen den eigentlichen Bewerb heuer verblassen. Das betrifft auch die Österreicherin Kaleen, die sich am Donnerstag für das Finale qualifiziert hat. Bis sie die Bühne betritt, wird man sich gedulden müssen: Sie wird als Letzte im Starterfeld mit „We Will Rave“ das heurige Finale beenden.

Für Kaleen erfüllte sich schon mit dem Finaleinzug ihr größter Traum, wie sie in der Pressekonferenz nach dem Halbfinale beschrieb. „Vor so vielen wunderschönen Menschen aufzutreten ist ein Wahnsinn!“

Österreich mit Kaleen – „We Will Rave“

Zwei Ausnahmenummern auf Siegeskurs

Das Chaos der vergangenen Tage überschattet auch die beiden musikalischen Favoriten des Bewerbs. Zum einen ist es eine Geschichte, die nur der Song Contest schreibt: Als Ersatzkandidat in den kroatischen Vorentscheid gespült, eroberte Marko Purisic zuerst sein Land und dann die Song-Contest-Community. Mit harten Gitarren, Elektobeats dazwischen und einem Text über Landflucht und das Auswandern geht „Rim Tim Tagi Dim“ als absoluter Favorit ins Rennen.

Kroatien: Baby Lasagna mit „Rim Tim Tagi Dim“

Zum anderen träumt auch die Schweiz vom ersten Sieg seit Langem: Denn Nemo bietet, auf einer drehenden Scheibe balancierend, eine ebenfalls überzeugende Nummer. „The Code“ besticht vor allem stimmlich, Nemo wandelt in drei Minuten zwischen Oper, Drum ’n’ Bass, Rap und hymnischem Pop.

Satanismus und gute Laune

Überraschend positiv wurde der irische Beitrag „Doomsday Blue“ von Bambie Thug aufgenommen. Offenbar finden viele den satanistisch angehauchten Auftritt der selbst ernannten Hexe irgendwie ironisch oder künstlerisch wertvoll, sodass ein Topplatz in Reichweite scheint – auch wenn die Jurys dafür wohl wenig Begeisterung entwickeln werden.

Liveticker auf ORF.at

Das Finale am Samstag ist ab 21.00 Uhr live in ORF1 und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen. ORF.at begleitet den Bewerb mit einem Liveticker – samt Bildern, animierten GIFs und Social-Media-Kommentaren.

Das gilt auch für den gewollt ironischen finnischen Beitrag „No Rules!“ von Windows95man, der vor allem optisch das Feld bereichert.

Frankreich und Italien wohl Jurylieblinge

Umgekehrt dürfen zwei Länder der „Big Five“ vor allem mit vielen Jurypunkten rechnen: Frankreichs Slimane, „The Voice“-Gewinner und Superstar in seiner Heimat, hat Erfahrungen mit großen Hallen und kann diese auch – wie er teilweise sogar ohne Mikro in Malmö beweist – mit seiner Stimme füllen. Sein „Mon amour“ ist quasi der Inbegriff der heuer spärlich vertretenen Powerballaden und wird vor allem als Juryfavorit gesehen.

Ebenfalls mit einem Castingshow-Sieg startete die Italienerin Angelina Mango, die mit „La noia“, einem sommerhittauglichen Popsong, antritt, ihre mittlerweile charthitgekrönte Karriere. Die fröhliche Ode an die Langeweile hat trotz italienischer Textlawine Ohrwurmqualitäten und dürfte ganz vorne mitmischen.

Italien: Angelina Mango mit „La noia“

Qualität aus der Ukraine, Überraschung aus Spanien

Im Topfeld zu erwarten ist – wie jedes Jahr – die Ukraine: Sängerin Jerry Heil und Rapperin Alyona Alyona dürfen für ihren eingängigen Song „Teresa & Maria“ sowohl auf hohe Bewertungen der Jurys hoffen, aber auch darauf setzen, dass die vielen vor dem Angriffskrieg geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer quer über Europa verteilt für sie stimmen.

Die besondere Geschichte des Song Contest schreibt heuer das spanische Frisörsalonbesitzer-Ehepaar Nebulossa. Er, der sympathische Dieter Bohlen der Alicante-Provinz, sie, die Dolly Parton der Iberischen Halbinsel. Untermalt wird ihre feministische Parole „Zorra“, mit der sie ganz Spanien beschäftigten, von zwei dreiviertelnackten Tänzern.

Briten und Deutsche heuer wohl nicht Letzte, oder?

Ebenso viel Männerhaut, nur auf mehr Personen verteilt, schickt Großbritannien mit Olly Alexander ins Rennen. Sein „Dizzy“ reicht wohl, um dem Vereinigten Königreich die Schande des letzten Platzes zu ersparen. Auf diesen hatte zuletzt auch Deutschland ein Dauerabo, Straßensänger Isaak dürfte aber genug Stimmkraft in Malmö unter Beweis stellen, dass es für die Nachbarn heuer nicht ganz so tragisch endet.

Deutschland mit Isaak – „Always on the Run“

Schweden befindet sich dieses Mal ausnahmsweise nicht in der Favoritenrolle, die norwegischen Brüder Marcus & Martinus sollen eher dafür sorgen, dass sich der Gastgeber unblamabel aus der Affäre ziehen kann.

Frauen in geballter Ladung

Auffällig im diesjährigen Starterfeld ist die geballte Ladung an weiblichen Acts, die teilweise auf sehr ähnliche Inszenierungen in knappen Kostümen setzen. Aus Luxemburg, das nach 31 Jahren erstmals wieder im Bewerb mitmischt, kommt Tali mit dem Titel „Fighter“, Nutsa Buzaladze aus Georgien tritt mit einer – titelentsprechend – feurigen Performance zu „Fire Fighter“ an.

Hinweis

Auf FM4 und im tvthek-Livestream kommentieren Jan Böhmermann und Olli Schulz das Finale. Jede Menge Zusatz- und Backstagevideos sind im Schwerpunkt in ORF On zu finden.

Dancelastig legt es auch Zypern mit der erst 17-jährigen Silia Kapsis und „Liar“ an. Modern interpretierte Folklore präsentieren Ladaniva mit Frontfrau Jacqueline Baghdasaryan und „Jako“.

Sirtaki-Elemente finden sich in den Reggaeton-Beats der griechischen Teilnehmerin Marina Satti und ihrem Song „Zari“. Sphärische Beiträge kommen – einmal schnell, einmal langsam – aus Portugal mit „Grito“, gesungen von Iolanda, und von Serbiens Teya Dora mit „Ramonda“.

Baltikum komplett

Unheimlich wird es bei der Slowenin Raiven und ihrer Inszenierung zum Beitrag „Angelika“, einem Mix aus Popsong und Opernelementen. Düsteren Folkrock schickt Norwegen mit der Band Gate und Frontfrau Gunnhild Sundli – ihr Song „Ulveham“ ist die Vertonung einer blutrünstigen mittelalterlichen Ballade.

Gleich alle drei baltischen Staaten sind im Finale – mit sehr unterschiedlichen Ansätzen: Mit kühlen Dancebeats gelang Litauens Silvester Belt mit „Luktelk“ die Qualifikation. Dons aus Lettland schaffte mit seiner Ballade „Hollow“ recht überraschend den Sprung ins Starterfeld. Für gute Laune sorgen 5Miinust & Puuluup aus Estland mit einer Art Rap-Battle um eine alte Leier.